Arne Alig – 2,15 Meter, Brettcenter, Markenzeichen: Irokesen-Haarschnitt – prägte den Gießener Basketball maßgeblich mit im Übergang vom Rand- zum professionalisierten Trendsport. Zwischen 1994 und 2000 spielte er insgesamt fünf Spielzeiten für den MTV Gießen – und wurde hier zur Kultfigur. Nach anhaltenden Knieproblemen wechselte Alig auf die Trainerbank. Zuletzt coachte er zwischen 2004 und 2008 Crailsheim. In der Sommerpause verstarb er plötzlich, unerwartet und viel zu jung.
„Zu tapsig und zu langsam“
Alig, so erinnert sich der langjährige MTV-Co-Trainer Michael Müller, hasste es, auf seine Körpergröße reduziert zu werden. Da passte es schlecht, dass der damals Anfang 20-Jährige gebürtige Hannoveraner nach College-Aufenthalt auf Hawaii in der NCAA bei seinem ersten BBL-Kontrakt in Bamberg als tapsig und zu langsam galt. Bei den Franken spielte er als Backup maximal die zweite Geige und suchte eine neue Rolle. So schloss er sich 1994 dem Gießener Männerturnverein an.
Von der zweiten Geige…
Es war eine aufregende Zeit im deutschen Basketball. Der Sport mit dem orangen Leder boomte. 1992 hatte das Dreamteam USA bei den Olympischen Spielen in Barcelona die Welt verzückt. Auf den Freiplätzen wurde Basketball – besser Streetball – zum Trendsport. Die Basketball-Bundesliga bekam einen ersten Namenssponsor. Im Privatfernsehen liefen die Partien: Erst ausgewählte Spiele auf DSF, später Ran-Basketball auf Sat.1 mit Zusammenfassungen des gesamten Spieltags.
In Gießens Sporthalle-Ost indes war Basketball Anfang der 90er eher out. Die letzte Hochphase hatte der Verein nach glorreichen 60er und 70er Jahren 1986, als man mit Michael Koch und Henning Harnisch ins Playoff-Halbfinale einzog. „Anfang der 90er war man dann froh, wenn sich 600 Leute in die Halle verirrten“, erinnert sich Müller.
Was es brauchte, so der ehemalige Assistenztrainer weiter, waren Spieler, die sich merkbar für den Verein den Allerwertesten aufreißen. Im Kontext der damaligen Professionalisierung der Liga galt es zudem, den Anschluss nicht zu verlieren. Regelmäßig kämpfte Gießen schon damals in der Relegation um den BBL-Verbleib: „Arne Alig war aus Gießener Sicht ein Mosaikstein, um das entsprechend zu gestalten.“
…zur Kultfigur
Der MTV setzt in dieser Zeit – erlaubt sind pro Team nur zwei US-Amerikaner – meist auf zwei Importspieler auf den großen Positionen. Größe bedeutet schon damals Geld, weshalb die besten Deutschen, die rar gesät sind, unter den Brettern von Berlin, Leverkusen oder Bayreuth auflaufen. „Das drehte sich durch Arne“, erklärt Müller. Zeitgleich „naturalisiert“ wird Jacek Duda, weshalb die Gießener nun auch auf den kleinen Positionen starke US-Amerikaner einplanen können. „Das brachte uns Achtung zurück, die der MTV seit den 80ern nicht mehr hatte.“
Ursprünglich ist Alig als Backup eingeplant. „Wir haben aber bald gemerkt, dass wir mit ihm auch starten können.“ An das schon damals als rau und wild verschriene Gießener Umfeld muss sich Alig erst gewöhnen. „Er war anfangs meist in sich gekehrt“, so Müller. Das ändert sich beides schnell.
„Als er ins Training kam, dachten wir, sein Frisör sei gerade verhaftet worden“, erinnert sich Müller an Aligs berühmten Irokesen-Schnitt. Die Fans aber lieben die Frise: „Es gab damals ja dieses Osthallen-Orchester. Die haben sich immer was einfallen lassen, und so trugen sie dann alle Wurzelbürsten auf Badekappen auf ihrem Kopf.“ Dadurch wurde der Iro Kult. „Das hat der Arne sichtlich genossen.“ Gepaart mit dem Umstand, dass Alig immer häufiger Starting Five spielt, blüht er in Gießen auf.
Abseits des Parketts gilt Alig als geizig, wie Müller an einer Anekdote verdeutlicht: Ein Großsponsor stiftet der Mannschaft damals zwanzig Kisten eines neuen Produkts: Light-Sekt. „Die wurden beim damaligen Teambetreuer deponiert, im Keller. Das wollte keiner saufen.“ Im April steht Aligs Geburtstag an: „Er hatte die ganze Mannschaft eingeladen. Alle waren positiv überrascht.“ Als das Team im Kühlschrank zu Getränken greifen will, staunt es nicht schlecht: „Es gab nur diesen Light-Sekt zum Trinken. Arne hat wohl auf einen günstigen Abend gehofft“, lacht Müller. In bester Gießener Tradition werden dem Geburtstagskind stante pede zwanzig Mark entlockt, um zwei Kästen Bier an der Tankstelle zu kaufen.
Die Rage des Underdogs – Playoffs 1996
Spielerisch entwickelt sich Alig beständig weiter. Als Team pflügt man erfolgreich durch die 95/96er-Runde, die man immerhin auf Rang sieben schließt. Die Osthalle ist längst wieder gut gefüllt. An einen Erfolg gegen Viertelfinalgegner ALBA BERLIN glaubt aber niemand.
Die ersten beiden Partien der Best-of-Seven-Serie werden an der Spree ausgetragen. Das Auftaktmatch endet mit einer Klatsche von über dreißig Punkten. Die Stimmung ist am Tiefpunkt. In der Halle beim Samstagstraining kommt es zum Gespräch zwischen Gießener und Berliner Verantwortlichen. Müller spricht unter anderem mit Svetislav Pesic und ALBA-Co-Trainer Burghard Prigge. Der Tenor: „Liebe Streicheleinheiten von ALBA. Sie haben uns getröstet und gesagt, macht euch nichts draus, so gut spielen wir bestimmt nicht nochmal. Aber es war klar, dass sie sich absolut sicher waren, die Serie locker mit 4:0 zu gewinnen.“
Alig sitzt auf der Bank und hört das Gespräch mit. Er ist stinksauer, sagt später zu Müller im Affekt: „Diese arroganten Fischköppe“ – Alig benutzt ein anderes Wort mit F – „denken doch, dass sie schon gewonnen haben.“ Müller nickt. „Egal was passiert, irgendeinen von diesen Wischmopps“ – auch hier fällt ein anderes W-Wort „reiße ich im Spiel um.“
Soweit kommt es nicht. Aligs darauf aufbauende Motivationsansprache in der Kabine sorgt aber dafür, dass alle Gießener motiviert bis in die Haarspitzen zu Werke gehen. Man gewinnt erst in Berlin, dann zu Hause in der Osthalle, die bis zum Anschlag gefüllt ist und vor Euphorie Kopf steht: 2:1. „Das war Arne, das war seine Welt“, erzählt Müller. „Er sah sich selbst als Underdog, und schauten andere von oben auf ihn herab, konnte er das nicht haben.“
Ja, die Serie endet mit einem 3:4 gegen das Team aus Charlottenburg, das erst im Finale an Leverkusen scheiterte. „Aber wo der Etat uns durch Welten trennte, waren es in der Realität am Ende nur wenige Punkte“, erinnert sich Müller stolz.
Müller: „Einer der größten Fehler, bei denen ich die Hand hob“
In Gießen ist die Basketball-Euphorie neu entfacht. Es kommt, wie es immer kommt: „Alle wollen mehr und mehr.“ Als man erfährt, dass der NBA-erfahrene Walter Palmer (214 Zentimeter, Brettcenter) zur Saison 1996/1997 an die Lahn wechseln will, müssen die Verantwortlichen überlegen, wie es weitergeht. Duda und Alig im Team behalten? Alig nach diesen starken Spielzeiten eine Backup-Rolle mit zehn Minuten Einsatzzeit zumuten? Aus Sicht des damaligen Geschäftsführers Robert Mayer, Coach Armin Andres und Müller scheint es opportuner, den etwas älteren und „bequemeren“ Duda zu halten. In Müllers Haus – der „Ort des Ungemachs“, wie er es heute nennt – weiht man Alig in den Plan ein, mit ihm nicht zu verlängern. „Er war wie vom Blitz getroffen, schaute alle an, und fiel sofort ins ‚Herr‘ und ‚Sie‘. Er verabschiedete sich förmlich und ging sofort. Ich war sicher, dass er tief verletzt war und uns bis zum Ende aller Tage hassen würde.“
Alig geht nach Elchingen, wo damals Stefan Koch Trainer ist. Im deutschen Basketball gilt damals der Leitspruch: Bist du in Oberelchingen, bist du am Ende. Gießen indes stellt sich die zu diesem Zeitpunkt teuerste Mannschaft der Clubhistorie zusammen. Neben Palmer läuft weiter James Shields auf, von dem es in der Sommerpause heißt, er würde bald den deutschen Pass bekommen: Auch das war ein Grund für die Verabschiedung von Alig. Aber: Dazu kommt es nicht, weshalb man wie früher mit zwei amerikanischen Big Men aufläuft. In der Mannschaft quietscht und knirscht es, „man war sich nicht grün. Bestimmte Mosaiksteine fehlten uns zu einem guten Gesamtbild. Und unser Bild war insgesamt scheiße.“
Die Fans sind unzufrieden, nicht zuletzt, da im fernen Elchingen Alig die Saison seines Lebens spielt. Bei den Punkten und Rebounds ist er ligaweit ganz vorne mit dabei. Das lässt die Stimmung weiter in den Keller sinken.
Es kommt schließlich zum direkten Aufeinandertreffen in Elchingen. An Müller nagen die Geschehnisse des Sommers. Er will Alig vor der Halle abfangen und die Aussprache suchen. „Ich sehe ihn kommen, er sieht über mich hinweg, ich spreche ihn trotzdem an. Er fragt: Herr Müller, was wollen Sie von mir?“ Müller entschuldigt sich, sagt: „Das war einer der größten Fehler, bei denen ich je die Hand gehoben habe. Wenn ich Fehler mache, gebe ich das auch zu.“
Alig reagiert emotional, umarmt Müller, die beiden versöhnen sich. Das Verhältnis ist gekittet und wieder wie zuvor. Nach der Saison wechselt Alig – zusammen mit Coach Koch – zurück nach Gießen. Müller ist nun nicht mehr Co-Trainer, bleibt aber stets im freundschaftlichen Austausch. Einmal fragt er den Langen beim abendlichen Bier, was Koch in Elchingen eigentlich besser gemacht habe als die Coaches in Gießen. Alig antwortet: „Nichts. Du musst in Elchingen performen, wenn du da nochmal wegwillst. Und ich wollte weg, daher habe ich performt.“
„Und der Star meines Herzens: Rest in Peace lieber Arne“
Alig bleibt bis 2000 bei den Mittelhessen. Fortwährende Knieverletzungen zwingen ihn mit 32 Jahren zum Karriereende. Alig vollzieht den fliegenden Wechsel und schlägt die Trainerlaufbahn ein: erst die Zweit-Vertretung des MTV 1846, dann Rist Wedel, wo er unter anderem Rolf Scholz coacht, schließlich Lich. 2004 kommt es zum Vertrag bei den Crailsheim Merlins, die damals in der eingleisigen zweiten Liga antreten. Auch dort erreicht Alig schnell einen gewissen Kultstatus. Mit Müller bleibt er über die Jahre stets im engen Austausch. Als Alig im Sommer 2008 ein Courtside-Camp in Frankfurt coacht, kommt es mal wieder zu einem Treffen.
Dabei verrät er, dass er im Frühherbst heiraten wolle: eine Deutsch-Kroatin, deren Eltern in Crailsheim ein Lokal betreiben. Alig ist seit jeher passionierter Segler. Müller ziert sich vor Einladungen zu Boot-Trips, lässt sich trotz Sorgen vor Seekrankheit aber überreden, um den Jahreswechsel herum zusammen mit Merlins-Geschäftsführer Martin Romig auf Aligs Boot einen Törn durch die kroatische Inselwelt zu machen: „Da kriegst du deinen Arsch aufs Boot!“, sagt Alig. Müller sagt schließlich zu.
Danach geht es für beide in den Sommerurlaub. Müller ist an der italienischen Adriaküste, Alig 450 Kilometer ostwärts in Kroatien. Am Abend des 2. Juli 2008 kommt Müller in sein Hotelzimmer. Auf dem Handy-Display leuchtet eine Nachricht von Romig, der – „egal zu welcher Uhrzeit“ – sofort um Rückruf bittet.
Alig wurde im Garten seines kroatischen Ferienhauses tot aufgefunden. Ausgegangen wird von einem Hirnschlag. Die Trauerfeier fand in seiner Heimat Hannover statt. Die Asche des 40-Jährigen wurde auf hoher See verstreut. Dort also, wo er sich am wohlsten fühlte.
„Ehre, Achtung und Respekt waren ihm wichtig“, sagt Müller. „Er war ein Original. Er kam verschlossen nach Gießen und öffnete sich immer mehr.“
Es überrascht daher nicht, dass Generationen an Gießener Basketball-Fans den Spieler und Menschen Arne Alig in bester Erinnerung behalten. Vor einigen Jahren schrieb Jan Ortwein, Mit-Komponist der derzeitigen Fanhymne des Vereins, das Lied „46 Gründe“. Darin gibt es eine Zeile, die hier als Schlusswort dienen soll:
„Und der Star meines Herzens: Rest in Peace lieber Arne“.
Text: Sebastian Kilsbach