Kevin McClain trägt die GIESSEN 46ers zum wichtigen Derby-Erfolg gegen Hagen und weit in Richtung Playoffs.
Mit etwas Verspätung stürmt Chris Harris geradezu in den Medienraum und ruft erstmal lautstark: »War das ein Kampf.« Und fügt, noch bevor der Trainer von Phoenix Hagen überhaupt Platz genommen hat, ebenso nachdrücklich an: »Schön ist anders.« Na klar, hat der Mann Recht. Schön ist wirklich anders. Ganz anders. Aber das ist den GIESSEN 46ers an diesem Samstagabend mal so was von Schnuppe. Denn während der Gästetrainer keineswegs schlecht gelaunt die 72:77 (30:38)-Niederlage seines Teams analysiert, feiern die Fans der Mittelhessen immer noch lautstark den Triumph im Derby und Spitzenspiel der 2. Basketball-Bundesliga ProA.
Einen Triumph nach tatsächlich großem Kampf. Einen Triumph einer aufopferungsvollen Defensive. Einen Triumph, den die Männer in Rot wiederum in der Offensive vor allem einem Spieler zu verdanken haben: Kevin McClain ist der Held des Abends. Der Mann, der stets dann mit wichtigen Punkteläufen zur Stelle ist, wenn seine Mitstreiter in dieser hitzigen Atmosphäre zittrige Finger bekommen. »Kevin«, lobt auch Branislav Ignjatovic seinen Pointguard, »hat uns getragen. Vor allem bei unserer Aufholjagd im ersten Viertel.«
Im ersten Viertel wiederum sieht es für die »Roten« phasenweise ziemlich düster, fast schon dunkelschwarz aus. Nach einer 8:7-Führung der 46ers durch Simon Krajcovics Freiwürfe nach dreieinhalb Minuten startet Hagen einen ganz wilden Lauf. Angeführt ausgerechnet von einem Ex-Gießener. Tim Uhlemann ist der überragende Mann beim Gast. »Er hat ein Klassespiel gemacht«, lobt auch Ignjatovic. Uhlemann versenkt einen Dreier zur 10:8-Führung der Feuervögel und streckt vor Freude die Zunge raus. Und Uhlemann holt sich wenig später den Rebound, versenkt zum 16:8 und nötigt die 46ers zur ersten Krisensitzung mittels einer Auszeit (6:30). Dann kommt McClain. Nein, dann stürmt McClain das Parkett. Dann gibt McClain den einsamen Helden wie einst sein Namensvetter alias Bruce Willis in »Stirb langsam«.
Mit acht Punkten in Folge gleicht er binnen irrwitziger eineinhalb Minuten zum 16:16 aus. Und als der Wirbelwind mit einem unwiderstehlichen Zug zum Korb ein 2:1-Spiel erzwingt und auf 24:28 zum Ende des ersten Viertels für die Gastgeber stellt, da tobt die Halle.
Zumindest der Großteil der Halle. Schließlich haben sich unter die gute, wenn auch nicht sehr gute Kulisse von 2574 Zuschauern auch ein paar Dutzend Hagen-Fans gemischt. »Eine tolle Atmosphäre. Ein tolles Derby«, ist später trotz seiner Niederlage Chris Harris übers Drumherum, das zum Glück friedlich bleibt, begeistert. Weniger begeistert ist der Feuervogel-Dompteur jedoch vom Start des zweiten Viertels. Da scheint Gießen dank eines krachenden Dunkings von Mladen Vujic und des Dreiers von Robin Benzing zum 29:19 (12.) vorzeitig auf die Siegerstraße einzubiegen und lässt die Halle schon mal »Oh MTV« singen.
Doch eine Gäste-Auszeit bringt den Gesangswettbewerb zum Verstummen. Uhlemann und Stephenson-Moore lassen ihre Farben beim 26:29 wieder etwas heller leuchten. »Es war ein Spiel der Läufe«, analysiert Harris später. Das Momentum erweist sich im Derby als unberechenbarer Geselle, fast schon als fieser Opportunist, der schneller die Seiten wechselt, als die Zuschauer klatschen können. Da vor allem Kyle Castlin einen Tag so gebraucht wie ein dreimal auf dem Flohmarkt verkauftes T-Shirt erwischt hat, aber auch Floor General Krajcovic ein fast schon zu eiskaltes Händchen beim Wurf zeigt, ist beim 38:33 zur Pause alles, aber wirklich alles offen.
»Das«, fasst später »Frenki Ignjatovic das mehr spannende als hochklassige Geschehen zusammen, »hatte echten Playoff-Charakter.« Viel Kampf, viel Defensive und dadurch schwierige Würfe prägen das umkämpfte Geschehen, das die Gießener ohne den erkrankten Nico Brauner bestreiten müssen, auch nach der Pause.
»Wir kamen nicht gut aus der Kabine«, muss Harris mitansehen, wie die Gastgeber durch den bärenstarken Viktor Kovacevic und Benzings sicheren Zwei-Punkte-Wurf schnell auf 46:35 stellen. Doch wieder spielt das Momentum Bäumchen-wechsel-Dich. Hagen kommt zurück. Hagen kommt nun auch dank des zweiten Ex-Gießeners in seinen Reihen zurück. Bjarne Kraushaar verkürzt nicht nur auf 45:50 (28:00), sondern dirgiert nun auch geschickt die Feuervögel. Mit 57:50 geht es ins letzte Viertel. Und alle wissen spätestens jetzt: Dieses Derby wird zum Krimi. Zum packenden Krimi wird es gar nach Kraushaars Freiwürfen zum 60:61 (36:40). Und zum angsteinflößenden Gruselstreifen aus Gießener Sicht droht die Sache gar nach Kraushaars Dreier zur 65:62-Führung der Gäste zu verkommen.
Das große Gruseln jedoch verhindern Krajcovics Dreier und Kovacevics 2:1-Spiel mit anschließendem Zweier zum 69:67 zweieinhalb Minuten vor Schluss. Und der Held des Abends rückt schließlich mit seinem nächsten 2:1 zum 74:68 (38:45) das Happyend ganz nahe und lässt die Halle toben. Und das Toben nimmt schließlich kein Ende mehr, als Krajcovics Freiwürfe zum 77:69 die Entscheidung bescheren, an der auch Uhlemans letzter Dreier zum 77:72-Endstand nichts mehr ändern kann.
»Das«, sagt danach der sichtlich gelöste 46ers-Trainer, »war ein riesengroßer Schritt in Richtung Playoffs.« Schließlich hat Gießen mit dem sechsten Sieg in Folge nun die Hagener Konkurrenz auf sechs Punkte distanziert. Da lässt es sich auch beruhigt in die zweiwöchige Spielpause gehen.
Gießen: Warnholtz (2), Heyne (DNP), Castlin (9), McClain (24), Benzing (8), Maier (2), Figge (1), Nyama, Kovacevic (15), Vujic (5), Krajcovic (11).
Hagen: Nawrocki, Kraushaar (10), Giese, McCall (8), Omuvwie, Stephenson-Moore (10), Uhlemann (22), Bohannon (6), Boner (6), Hounnou, Carry (10).