Für ein Schnitzel mit Pommes

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Als der MTV 1846 Gießen 1965 seine erste Deutsche Meisterschaft erringt, bekommen Matchwinner Ernie Butler, Holger Geschwindner, Bernd Röder und Co. kein Geld, aber ausreichend zu essen.

Lang, lang ist’s her. Um genau zu sein: 60 und 50 Jahre! 1965 feierte der MTV 1846 Gießen, dessen Nach-, Nach-, Nachfolgeclub inzwischen GIESSEN 46ers heißt, seine erste Deutsche Basketball-Meisterschaft, 1975 seine vierte (von fünf). Grund genug, die „Alten Meister“ vom 17. bis 19. Oktober an der Lahn zusammenzutrommeln und sie hochleben zu lassen. Mit Ehrungen. Mit Feierlichkeiten. Aber auch mit zwei Artikeln, die an längst vergangene, aber nie vergessene Zeiten erinnern sollen. Heute: Teil 1 und der Rückblick auf die Saison 1964/65 …

Es waren Sekunden, die jenen Anhängern mit der Gnade der frühen Geburt, den Menschen in der Heidelberger Collegehalle, den 500 mitgereisten Fans und natürlich auch jenen Basketball-Enthusiasten, die die Reportage von HR-Reporterlegende Hans-Joachim Rauschenbach (Sie wissen, der mit den karierten Sakkos …) zu Hause am Radio verfolgten, an jenem 23. Mai des Jahres 1965 nicht unbedingt den Atem stocken, mindestens aber den Puls deutlich höher schlagen ließen. 

20 Sekunden waren im Finale um die Deutsche Basketball-Meisterschaft zwischen dem turmhohen Favoriten VfL Osnabrück und dem MTV 1846 Gießen noch zu gehen, als Coach Pit Nennstiel seine Spieler zu einer Auszeit zusammentrommelte und ihnen ein denkbar einfaches Rezept verordnete. Der stärkste Dribbler auf dem Feld, der erst 19-jährige Holger Geschwindner, sollte den Einwurf von Heinz Ross erhalten, bis kurz vor Spielende den Ball führen und dann zum 30-jährigen Ernie Butler passen. In den Händen des damals noch einzigen erlaubten US-Akteurs lag also die Verantwortung für „Tod oder Gladiolen“, wie es später Fußballtrainer Luis van Gaal gerne radebrechte. Gesagt, getan … 

Holger Geschwindner bekam den Ball, dribbelte – aber in Richtung des eigenen Korbs. Was die Fans vor Schreck fast unter die Stühle krabbeln ließ. Denn sie befürchteten, der spätere Entdecker von NBA-Superstar Dirk Nowitzki habe den Überblick verloren. Und Reporter Rauschenbach glauben ließ, Geschwindner habe den Ernst der Situation nicht erkannt. Doch der in seiner ersten Seniorensaison das MTV-Trikot tragende Zocker (Geschwindner: „Wenn ich heute sehe, wie manche Fußballer ganz eilig an den Schnürsenkeln nesteln, wenn der Trainer Schützen für ein Elfmeterschießen sucht, kann ich nur den Kopf schütteln. Bei uns hätte das früher geheißen: Trainer gib die Pille her. Ich tu ihn rein“) wusste genau, was er wollte. 

Da in den Sechzigern die Hallen nur mit einer Spieluhr ausgestattet waren, die in Heidelberg nun mal über dem MTV-Korb hing, dribbelte er mit voller Absicht in Richtung der eigenen Reuse. So konnte er die herunterlaufende Uhr beobachten und passte im letzten Moment über das ganze Feld zu Ernie Butler, dem besten noch auf dem Feld verbliebenen MTV-Werfer, da die Nationalspieler Bernd Röder und Klaus Jungnickel bereits ausgefoult draußen saßen. Dieser spielte sich zwei Sekunden vor Schluss mit ein, zwei schnellen Körpertäuschungen geschickt frei, stieg hoch und versenkte die Kugel – als wenn es das Einfachste der Welt wäre – von weit hinter der heutigen (und damals noch nicht existenten) Dreierlinie, ehe er unmittelbar danach beinahe von seinen Mannschaftskameraden erdrückt worden wäre. 

Die Begeisterung kannte keine Grenzen, denn der 69:68-Sieg über den VfL Osnabrück bescherte dem MTV 1846 seine erste von insgesamt fünf Deutschen Meisterschaften und bescherte Gießen obendrein die Teilnahmeberechtigung am Europa-Cup.

An die anschließenden Feierlichkeiten denkt der damalige Meisterspieler Bernd Röder auch heute noch gerne zurück: „Schon auf der Autobahn haben wir fast nur Gießener Kennzeichen gesehen. In der Jahnhalle am MTV-Sportplatz ging es anschließend mit 700 Gästen richtig rund. Der Hansa-Musikcorps spielte, der Oberbürgermeister war da, und wir feierten so lange, bis die Zeitung des nächsten Tages endlich geliefert wurde und dort tatsächlich stand, dass wir Deutscher Meister geworden waren. Erst dann haben wir alles langsam realisiert.“

Aufs Feiern verstanden sich die Gießener Spieler ohnehin, wurde doch an den Tresen im Vereinsheim, der Ludwigshöhe, sowie in der Käsekiste und im Hawwerkasten der Teamgeist geschmiedet, der die Männerturner von 1846 auch über individuell besser besetzte Clubs triumphieren ließ. „Wir haben sehr viel zusammen gemacht, beispielsweise gesungen oder Karten gespielt. Uns brachte die Leidenschaft für den Basketball zusammen – und das haben wir zusammen genossen. Wir bekamen kein Geld, aber nach Siegen gab es als Lohn oftmals Schnitzel mit Pommes. Toll war auch, dass die Eltern von Holger Geschwindner immer mal wieder große Feste für das ganze Team samt Betreuerstab organisiert haben“, gerät der Elder Statesman des Gießener Basketballs noch 60 Jahre später ins Schwärmen.

Doch wie kam es überhaupt damals dazu, dass der MTV 1846 den haushohen Favoriten aus Osnabrück in die Knie zwang? Nach dem Aufstieg in die Oberliga 1962 scheiterte Gießen zunächst zweimal in den Ausscheidungsspielen, ehe die Mittelhessen 1965 als Dritter der Hauptrunde Südwest nacheinander Wolfenbüttel, Schwabing und Aachen eliminierten und sich somit die Zulassung für das Finale sicherte. 

Die unverhoffte Chance auf den großen Coup sorgte in dem verschworenen und über Jahre gewachsenen Team um Topscorer Klaus Jungnickel jedoch nicht für Nervosität. Auch wenn die von Pit Nennstiel gecoachte Mannschaft, für die Burkhard Ehrlich, Klaus „Pollo“ Urmitzer, Ernie Butler, Holger Geschwindner, Klaus „Dschang“ Jungnickel, Hans Georg Rupp, Hermann Schirmer, Jürgen Gelling, Bernd Röder, Karl Clausen, Heinz Ross und Günther Feick aufliefen, die rund 500 mitgereisten Anhänger in der Heidelberger Collegehalle in den Schlusssekunden erst einmal in einen Schockzustand versetzte …

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