Geschrumpft über dem Atlantik

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Mit dem als Center angekündigten, aber nur gut 1,90 Meter großen Dennis Curran sichert sich der MTV 1846 Gießen 1975 seine vierte Deutsche Meisterschaft.

Lang, lang ist’s her. Um genau zu sein: 60 und 50 Jahre! 1965 feierte der MTV 1846 Gießen, dessen Nach-, Nach-, Nachfolgeclub inzwischen GIESSEN 46ers heißt, seine erste Deutsche Basketball-Meisterschaft, 1975 seine vierte (von fünf). Grund genug, die „Alten Meister“ vom 17. bis 19. Oktober an der Lahn zusammenzutrommeln und sie hochleben zu lassen. Mit Ehrungen. Mit Feierlichkeiten. Aber auch mit zwei Artikeln, die an längst vergangene, aber nie vergessene Zeiten erinnern sollen. Heute: Teil 2 und der Rückblick auf die Saison 1974/75 …

Als der Neue aus Übersee aus dem Flugzeug stieg, trauten sie ihren Augen nicht. Ein Bär von einem Kerl, ein echter Brett-Center, irgendetwas um 2,05 Meter groß, sollte er sein. So zumindest hatte ihn Tony Koski dem damaligen Manager Heinz-Ewald Hirsch wärmstens empfohlen. Doch zum ersten Training in der Osthalle erschien mit Dennis Curran ein eher schmächtiger junger Mann. Lange Haare, Gitarre, Jeans, kariertes Hemd, zehn Dollar in der Hosentasche, beste Laune – aber nur rund 1,90 Meter groß. „Wir dachten alle, wir wären irgendeinem Fake aufgesessen“, erinnert sich der damalige Spielmacher Hans Heß noch gut an die erste Begegnung mit dem zu diesem Zeitpunkt 22-Jährigen. Der allerdings beim MTV einschlug, wie eine Bombe. Doch dazu später mehr …

Zu Beginn der Saison 1974/75 hatte Gießen im bundesdeutschen Basketball-Oberhaus niemand auf der Kette. Was nachvollziehbare Gründe hatte. Olympiateilnehmer Karl Ampt hatte seine Zelte abgebrochen und Mittelhessen in Richtung Bamberg verlassen. US-Center Anthony Koski, allen nur bekannt unter „Tony“, war nach Nizza gewechselt, um dort international spielen zu können. Klaus „Dschang“ Jungnickel hatte seine Laufbahn als Aktiver nach 16 Jahren im MTV-Trikot beendet. Da auch Jochen Decker nicht mehr zur Verfügung stand, befürchteten viele, dass der ruhmreiche MTV 1846 nach dieser richtungsweisenden Saison (letztmalig wurde in der zweigeteilten Bundesliga gespielt, nur die ersten Sechs sollten sich automatisch für die neue einteilige Bundesliga qualifizieren) mit leeren Händen dastehen könnte.

Und getreu der alten, vom unlängst verstorbenen 90er-Weltmeister Andy Brehme kultivierten Fußballer-Weisheit – „haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß“ – gestaltete sich auch die Trainersuche problematisch. Mit „Didi“ Kienast, der zwar als ausgezeichneter Coach, aber als Mann ohne sportliches Glück, in die Annalen der Männerturner einging, mochte das Team um Kapitän Michael „Bony“ Breitbach nicht mehr arbeiten. Wunschkandidat Egon Steuer, der ehemalige niederländische Nationaltrainer, kam nach Gießen, sah die Stadt – und verschwand über Nacht nach Frankreich. Kandidat Nummer zwei, der Rumäne Dragos Nosievici, fand keine Arbeit in Gießen und verabschiedete sich in Richtung Luxemburg. Weil in den Siebzigern der Trainerposten in der Osthalle natürlich nur nebenberuflich auszuüben war … 

Also packte „Bony“ Breitbach seinen alten Mitstreiter „Dschang“ Jungnickel bei der Ehre und überredet ihn, nach Spieltag drei zu übernehmen. Was sich auszahlen sollte, denn er schweißte Hans Heß, Michael Breitbach, Roland Peters, Robert Minor, die Brüder Ulrich und Dieter Strack, Eberhard Bauernfeind, Dieter Krausch, Jörg Bernath, Henner Weigand und Thomas Scheld nicht nur zu einer Einheit zusammen, die die Kontrahenten in Ermangelung einiger Männer mit Gardemaß fortan nicht nur überrannte, sondern in Dennis Curran auch den überragenden Akteur der gesamten Bundesliga in ihren Reihen hatte. Dass er bei seiner Reise über den Großen Teich urplötzlich geschrumpft war, interessierte fortan niemanden mehr.

Der US-Boy erzielte im Schnitt 27 Punkte pro Partie, Hans Heß legte durchschnittlich knapp 18 auf. Was am Ende der Hauptrunde im Süden Platz eins bedeutete. Im Halbfinale wartete schließlich der MTV Wolfenbüttel. Dem 81:80 in der Osthalle mit einem Gamewinner von Dennis Curran in der Schlusssekunde folgte das 78:78 bei den Niedersachsen. 

Wer gedacht hatte, mehr Spannung ginge nicht, der sah sich eines Besseren belehrt. Am 1. März 1975 stand in der pickepacke vollen Osthalle das Final-Hinspiel gegen den USC Heidelberg auf dem Programm. Das gesamte Spielfeld war umringt von Fans; und sogar die Treppen dienten den Anhängern notgedrungen als Sitzplätze. Der Andrang war riesig, gut und gerne 10.000 Tickets hätten die MTV-Verantwortlichen verkaufen können. 4000 Zuschauer sorgten für einen Höllenlärm und peitschten ihren »Em-Tee-Vau« nach vorne. Zur Halbzeit führte das Team um Kapitän Breitbach mit 44:33. 

Vor allem dem gnadenlosen Gießener Tempospiel hatten die Heidelberger nichts entgegenzusetzen. Auch im zweiten Durchgang – damals wurden noch zweimal 20 Minuten gespielt, zudem gab es noch keine Dreier – hielt die hohe Intensität der Männerturner an. Dennis Curran spielte groß auf und kam beim 84:69-Erfolg schließlich auf 28 Zähler. Zweistellig punkteten außerdem Dieter Strack (11), Roland Peters und Hans Heß (je 10). Bei den Gästen traf National-Center Didi Keller (24) am besten.

Eine Woche später fiel in der ausverkauften Halle im Heidelberger Leistungszentrum vor 2000 Besuchern die Entscheidung um die Deutsche Basketball-Meisterschaft 1975. Die Gastgeber mussten einen 15-Punkte-Rückstand aufholen, und der USC führte bereits nach zehn Minuten 20:8. Das junge Gießener Team wirkte gelähmt, die Baden-Württemberger indes spielten wie entfesselt auf. Zehn Punkte hatten die von Superstar Malek Abdul Mansour angeführten Neckarstädter zur Halbzeit beim 36:26 schon aufgeholt. 

Auch die zweiten 20 Minuten waren nichts für schwache Nerven. Mal stand der USC als Meister fest, mal der MTV. Erst als sieben Sekunden vor Schluss Henner Weigand einen unkontrollierten Ball erwischte und dieser zu Dennis Curran gelangte, der zum 56:67 aus Sicht der Gäste abschloss, war der vierte nationale Meistertitel für den MTV 1846 Gießen perfekt. Diesmal war Hans Heß mit 16 Punkten Topscorer der Gießener, gefolgt von Robert Minor (13).

Denkt er noch heute an die anschließenden Feierlichkeiten in der MTV-Jahnhalle im Heegstrauchweg, so läuft es Hans Heß noch immer eiskalt den Rücken hinunter: „Als wir einmarschierten, brach ein nie enden wollender Jubelsturm aus. Wir hatten Party bis zum nächsten Morgen.“ Mittendrin: Ein eigentlich baumlanger Center aus der Nähe von New York, der über dem Atlantik merklich geschrumpft war …

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