GIESSEN 46ers haben Phoenix Hagen beim 65:51-Zwischenstand schon im Sack, verlieren den Liga-Gipfel am Ende mit 77:92 aber noch deutlich.
Im Stadttheater sagen die Menschen für gewöhnlich: „Solange die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende.“ Auf der großen Bühne Osthalle sollten sich zumindest die Profis den Ausspruch des kulturellen Publikums hinter die Ohren schreiben. Denn: Solange sich der Ball noch bewegt, solange die Uhren noch ticken, solange zuckt der Gegner auch noch. Und wehrt sich, bis bei den Hausherren alle Dämme brechen.
„Unglaublich, so etwas habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht erlebt“, schüttelte der am Samstagabend wieder einmal überragende Kyle Castlin in der Kabine noch ungläubig seinen Kopf und starrte wie paralysiert auf die Stats, die ihm schwarz auf weiß vor Augen führten, was gerade passiert war. Mit 65:51 (30.) hatten seine GIESSEN 46ers am zweiten Spieltag der BARMER 2. Basketball-Bundesliga ProA Phoenix Hagen schon im Sack, um sich in den folgenden nur rund 220 Sekunden und einem 21:0-Run der Südwestfalen alles so hart Erarbeitete noch aus den Händen reißen zu lassen.
„Unakzeptabel“ nannte Daniel Norl das vierte Viertel, in dem Hagen neun Dreier, Spielmacher Marcus Graves davon gleich fünf, in die Reuse einschweben ließen und den Hausherren, die in den abschließenden zehn Minuten vor einem 12:38-Scherbenhaufen saßen, den Stecker zogen. „Bei Gießen brachen alle Dämme, wir aber haben die Lage ausgenutzt, haben die Uhr gemolken und sind urplötzlich so reif aufgetreten, wie ich es mir habe früh in der Saison kaum vorstellen können“, fasste Phoenix-Übungsleiter Chris Harris die Geschehnisse treffend zusammen.
Zu einem Zeitpunkt, als auch sein Kollege „Frenki“ Ignjatovic nur fassungslos auf den Statistikbogen blicken konnte: „Wahrscheinlich haben wir uns vor dem abschließenden Viertel schon wie der sichere Sieger gefühlt. Das darf uns nicht noch einmal passieren. Insgesamt ist es auch für mich so kurz nach dem Match schwer zu erklären, was sich heute Abend ereignet hat.“
Dass der Rausch der „Feuervögel“ ohne 46ers-Topscorer Kyle Castlin vonstattenging, was gar manchen in der ausverkauften Osthalle wunderte, wusste der (noch) 58-Jährige indes zu erklären: „Er bat mich um eine Verschnaufpause. Wenn ein so erfahrener Spieler um seine Auswechslung bittet, dann muss ich das akzeptieren, denn ich möchte keine Verletzung riskieren“, wusste Ignjatovic nur zu gut, dass das 67:73 (33.) eben durch den Sekunden zuvor aufs Parkett zurückbeorderten US-Guard irgendwie zu spät kam.
Hagen war am Drücker, Gießen flatterten die Nerven und zitterten die Hände. Nur noch ein Freiwurf von Till Gloger, ein Dreier und zwei Freiwürfe durch Robin Benzing, die einzigen beiden Zähler von Luis König Figge sowie das abschließende 77:92 von Aiden Warnholtz verhinderten nach einem zwischenzeitlichen 28:3-Lauf der Gäste das Debakel der Hausherren nicht mehr.
„Wenn wir zu den Top-Teams der Liga gehören wollen, dann müssen wir auch aus solchen derben Niederlagen gestärkt hervorgehen“, wollte der 46ers-Cheftrainer nicht alles schlechtreden. Schließlich hatten seine Jungs die Fans drei Viertel lang begeistert, hatten für Spektakel gesorgt und nie den Eindruck erweckt, wie geprügelte Hunde vom Feld schleichen zu müssen.
Erst gehörte die Anfangsphase Center Jonathan Maier, der fast im Alleingang für die 7:5-Führung (3.) gesorgt hatte. Dann räumte Daniel Norl den ehemaligen Gießener Pointguard Bjarne Kraushaar spektakulär ab (11.), sorgte Robin Benzing mit Brett für das 26:23 (12.), lupfte Aiden Warnholtz in Bedrängnis das Spielgerät über Marcus Graves mit einer Hand zum 40:38 (18.) in die Reuse, schloss Kyle Castlin einen Tempogegenstoß mit Highspeed zum 46:45 (22.) ab, ehe er aus Downtown seine bis dato atemberaubende Performance zum 56:49 bei eigenem 14:6-Run vollendete.
Als Hagens eigentlicher Scharfschütze Devin Schmidt wegen Meckerns (28.) auch noch mit einem „T“ belegt wurde und Kyle Castlin per And One auf 65:51 (30.) stellte, deutete nichts, aber auch rein gar nichts auf einen Umschwung hin. Es war eine Einschätzung, die 2404 Besucher und alle Protagonisten in der Halle geteilt hätten, mit der aber alle falsch lagen.
„So ist das im Basketball, heute sind wir halt die Blöden“, ärgerte sich „Frenki“ Ignjatovic, um sich wenig später samt seiner Familie auf den Nachhauseweg zu machen statt im VIP-Raum sich an Nudeln im Parmesanmantel, Rindergulasch mit Spätzle oder Garnelen auf Avocadocreme zu stärken. Dem Deutsch-Serben war schlicht der Appetit vergangen.
Ganz im Gegensatz zu Robin Benzing, der bei allen kulinarischen Leckereien auch noch Zeit für eine schonungslose Analyse fand: „Das ist halt das Brutale am Basketball. Erst hast du einen Lauf, dann einen Einbruch. In unserem Sport geht so etwas sehr schnell“, resümierte der Ex-Internationale. „Das letzte Viertel war wie eine Blutung, die wir nicht stoppen konnten.“ Doch Benzing wäre nicht Benzing, hätte er (im Gegensatz zu Kyle Castlin) so etwas nicht schon erlebt. „Die Niederlage ist kein Beinbruch, die Saison ist noch jung. Lass Hagen feiern, lass sie sich freuen, das ist morgen wieder vergessen. Am Ende wird abgerechnet.“
Wohl wissend: Solange die dicke Frau noch singt, ist die Oper nicht zu Ende …
Gießen: Norl (2), Warnholtz (10), Castlin (26), Benzing (15), Maier (9), König Figge (2), Müsse (n.e.), Vukovic (3), Gloger (5), Junakovic (3), Nyama, Krajcovic (2).
Hagen: Graves (25), Nunez (6), Nawrocki (16), Kraushaar (3), Schmidt (11), Bleck (13), von Waaden, Uhlemann (10), Carroll (8).
UND SONST NOCH …
- Unsere Starter: Aiden Warnholtz, Kyle Castlin, Robin Benzing, Jonathan Maier, Simon Krajcovic.
- Unser Konditions-Wunder: Kyle Castlin (32:45 Minuten).
- Unser stärkster Rebounder: Jonathan Maier (7).
- Unser erfolgreichster Passgeber: Martin Junakovic (5).
- Unsere höchste Führung: 65:51, 30. Minute.
- Unsere erfolgreichste Serie: 10:0 zum 61:49, 28. Minute.
- Unsere emotionalen Beobachter: 2404 Zuschauer in der ausverkauften Osthalle.
- Unser nächster Auftritt: Samstag, 11. Oktober, 19.30 Uhr bei den Paderborn Baskets.