Wir schreiben den 28. April 1968. Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland, vergnügt sich seit Jahresbeginn mit der neu erfundenen Mehrwertsteuer sowie dem Oswalt Kolle Film „Wunder der Liebe“, an den Universitäten wird der Numerus Clausus eingeführt. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) setzt zwei Frankfurter Kaufhäuser in Brand, Andreas Baader und Gudrun Ensslin werden als Brandstifter zu drei Jahren Haft verurteilt. Die Republik steht vor einer der ganz großen Zeitenwenden. Nur im Basketball bleibt – noch – alles beim Alten.
Der amtierende Deutsche Meister MTV 1846 Gießen hat erneut das Endspiel erreicht. Gegner ist wieder der VfL Osnabrück mit Spielern wie Dr. Wienand und Dr. Yaya, Austragungsort ist diesmal die Halle am Schlosswall in Osnabrück. Und erneut entwickelte sich ein Basketball-Hitchcock mit einem Happy End für den MTV. Vor 2000 Zuschauern, 300 reisten aus Gießen an den Schlosswall an, schienen die Norddeutschen zunächst den Heimvorteil nutzen zu können. 14:7 stand es nach vier Minuten. Die MTV-Mannschaft um Jungnickel, US-Spieler Jackson, Geschwindner, Kienast, Röder und Ampt, musste sich mächtig ihrer Haut erwehren. Die Halle tobte. Drei Minuten später führte der VfL 18:9. Die Osnabrücker Fans verwandelten ihre Halle in eine Festung und es machte den Anschein, als sollte auch im Basketball eine Wende in der Republik folgen, als sollte der MTV seinen Titel aus dem Vorjahr nicht verteidigen können.
Bis zur Halbzeit jedoch konnte das Team um den einmal mehr in seinem Korbdrang nicht zu stoppenden Klaus „Dschang“ Jungnickel und besten Schützen dieses Finales (30 Punkte) den Spieß zum 35:36 umdrehen. Was in der zweiten Hälfte folgte, ging einmal mehr als Drama in die Basketball-Historie ein. Beide Mannschaften gaben keinen Quadratzentimeter Spielfeld kampflos preis, ganze Spielertrauben gingen zu jedem Rebound, Schnellangriff auf Schnellangriff rollte von Brett zu Brett. Kein Team vermochte sich entscheidend abzusetzen. Jeder Korberfolg wurde umjubelt, mal von 1700 Osnabrückern, mal von 300 Gießenern.
Die Schlussphase des Endspiels entnehmen wir „live“ aus G. Raschkes „Die MTV-Story“: „(…) Angst – Angst – Und der Kampf auf dem Spielfeld wogte hin und her. Wer würde ihn für sich entscheiden? Noch hält das Schicksal seine Karten zurück. Dann Führung für die Giessener durch „Didi“ Kienast M-T-V M-T-V! Ausgleich und Führung für die Osnabrücker durch Dr. Weinand. V-F-L V-F-L! Führung-Ausgleich-Führung……Die Zuschauer feuern ihre Mannschaften, die bis zum Umfallen kämpfen, mit südländischer Begeisterung an. ……noch 3 Minuten…..68:68! Jetzt war die Höll e los, die Nerven bis zum Äußersten angespannt. Die Angst schleicht erneut durch die Osnabrücker Halle. Noch 2 Minuten…..68:68! Die Osnabrücker Dr. Yaya und Dr. Weinand laufen nur noch als „Nervenbündel“ herum – die Zuschauer reißt es von den Sitzen – die Tribüne ist ein wildes, schreiendes Durcheinander. – Angst – 4000 Augen starren auf die Uhr – dann auf die 10 Spieler, die um die Entscheidung ringen….noch 100 Sekunden reine Spielzeit. M-T-V V-F-L V-F-L!!! Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt – und dann die Entscheidung: Zuerst 71:69 und 73:69 für den deutschen Meister – dann ein großes Aufbäumen der gesamten Osnabrücker Mannschaft. 1000-stimmig donnert noch einmal das V-F-L durch die Halle….noch 60 Sekunden – die Norddeutschen führen den Ball….Ballverlust – und dan treffen innerhalb von nur 30 Sekunden Holger Geschwindner, „Lu“ Jackson und „Didi“ Kienast mit „tödlicher“ Sicherheit aus der Distanz zum 79:69 Sieg für den MTV 1846. – Keiner hört die Schlusssirene. – Kein V-F-L mehr von den Rängen…Und in der Halle jubilieren 300 Gießener Fans, in ihrer Mitte die erschöpfte, überglückliche MTV-Mannschaft. Der MTV hat seine 3. Deutsche Basketball-Meisterschaft gewonnen!“
Text: Wolfgang Lehmann