Gegen Simmenthal Mailand war auch mal eine 30 Punkte-Klatsche ein magischer Moment

Vorlesen:

Nur noch wenige Exemplare existieren von dem 1975 von MTV-Fan G. Raschke verfassten und herausgegebenen kleinen Büchleins „Die MTV-Story“. Für jeden traditionsbewussten Fan ist die Lektüre der Geschichte des Basketballs in Gießen eigentlich ein Muss. Bemerkenswert vor allem, was Autor Raschke durch seine damalige ungetrübt rosarote Brille alles als magische Momente betrachtete und beschrieb. So liest der geneigte Leser mit der Ungnade der zu späten Geburt, um selbst dabei gewesen zu sein, über ein Europapokalspiel der Saison 65/66, dass der absolute Höhepunkt der Saison die Spiele gegen den italienischen Meister Simmenthal Mailand gewesen seien.

Gießen erlebte offenbar im Hinspiel einen ersten magischen Moment, denn, so Schreiber Raschke: „Der MTV zeigte ein großes Spiel, die letzten fünf Minuten waren voller Dramatik, in dieser Phase bewies der deutsche Meister seine absolute Klasse.“ Also – Führung für den MTV oder permanente Unentschieden? Weit gefehlt! „Vom 50:76 bis zum 77:84 brannten die Giessener ein wahres Feuerwerk ab.“ Vom unwahrscheinlichen Giessener Angriffswirbel der Geschwindner, Wucherer, Röder und Jungnickel ist die Rede bei einem Spiel, das von einem Zwischenresultat von minus 26 Punkten bis auf minus sieben gelangt, dann aber sang- und klanglos 77:88 verloren geht.

Noch „magischer“ das Rückspiel. Vor 5000 Zuschauern bahnt sich laut Chronist Raschke bereits eine Sensation an, als Gießen 27:20 führt. Laut Beobachter ist die Giessener Mannschaft von Coach Nennstiel wieder hervorragend eingestellt. Ob der MTV damals in Mailand die Sensation eines Auswärtssieges schaffte. Schade, irgend etwas muss in den Schlussminuten passiert sein. Denn der Mailänder Bradley konnte völlig überraschend noch ein denkbar knappes 103:73 herauswerfen. Bei dieser dreißig Punkte Niederlage liegt dann der Gedanke nahe, dass die von Raschke im Folgenden zitierte italienische Zeitung ein Vorläufer des deutschen Satireblattes Titanic war: „Die Giessener haben mit ihren Spielen bewiesen, dass der Basketball in Deutschland wieder den Anschluss an die internationale Spitze gefunden hat“.

Doch es war sicher nicht nur die rosarote Brille von Raschke, die ein derart niederschmetterndes Ausscheiden noch als magic moment beschrieb. Es war eben auch ein Zeichen dafür, wo der deutsche Basketball in jenen Jahren international stand. Und auch wenn die Giessener Pioniere um Röder und Jungnickel international noch Lehrgeld zahlen mussten, waren sie national doch kaum zu schlagen. Bereits 1967 standen die Männerturner zum zweiten Mal in einem Endspiel um die deutsche Meisterschaft. In Mannheim kam es zum Aufeinandertreffen mit dem VfL Osnabrück. 600 Gießener Schlachtenbummler reisten damals nach Mannheim, erlebten einen laut Chronist Raschke Basketball-Lehrfilm der Giessener um Röder, Jungnickel, Geschwindner, Kienast, Wucherer, Roß, Dort, Heindel, Jörg und Glock und mit einem 85:73-Erfolg die zweite deutsche Meisterschaft.

Text: Wolfgang Lehmann

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